Athlet*innen im Mittelpunkt Grüner Sportpolitik

Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft Sportpolitik, beschlossen am 06.06.2021

Einleitung

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Sportpolitik von Bündnis 90/Die Grünen begreift Sportpolitik als eine Politik für Athlet*innen. Diese stehen im Mittelpunkt des Sportgeschehens und sind die entscheidenden Zentralfiguren[1] in den Arenen der Welt. Als Athlet*innen bezeichnen wir Menschen, die im Wettkampf hohe und höchste Leistungen erzielen und dafür unter Verzicht auf andere Dinge zeitweilig ein systematisches Training als Lebensmittelpunkt haben.[2] Durch ihr Auftreten im Wettkampf auf öffentlicher Bühne erzeugen Athlet*innen dabei Gemeinwohlgüter, von denen die Bevölkerung als Ganzes profitiert. Dies sind unter anderem Fairplay, Zuschauer*innenerlebnisse, Fankultur, Glücksempfinden, Zerstreuung, Freizeitausgleich, Völkerverständigung, individuelle Anregung zur Nachahmung sowie die lokale, regionale und nationale Identifikation und Repräsentation. Darüber hinaus unterhalten sie mit ihrem Dasein den Sport als bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Während der von den Athlet*innen geschaffene Nutzen (soziales, kulturelles und finanzielles Kapital) somit kollektiv konsumiert wird, entfallen die Kosten und der Aufwand für die Herstellung dieser Güter im Gegensatz zu anderen öffentlichen Gütern zu einem Großteil auf reine Eigeninvestitionsleistungen der Athlet*innen, die dafür entgegen der allgemeinen Annahme keine oder nur wenig gesellschaftliche Kompensation erfahren.[3] Dabei liegen die Risiken wie zum Beispiel Verletzungen, die Doppelbelastung in Schule, Studium und Ausbildung, Freizeitverzicht und verspäteter Berufseinstieg im Wesentlichen bei den Athlet*innen. Außerdem werden besonders erfolgreiche Athlet*innen von der Öffentlichkeit ihrer Bekanntheit wegen als individuelle Vorbilder angesehen und dienen ihr als positive Identifikationsfiguren. Das sportliche Handeln wie Fairplay aber auch das Alltagshandeln dieser Athlet*innen wird dadurch an sehr hohe moralische Erwartungen gekoppelt.[4] Die Politik, die Sportverbände und die Wirtschaft haben im Sinne Grüner Sportpolitik deshalb gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass Athlet*innen verlässliche, faire Rahmenbedingungen vorfinden, die es ihnen in vertretbarem Maße erlauben, unter Einsatz ihrer persönlichen Ressourcen einen Zeitabschnitt ihres Lebens der Verwirklichung ihrer Träume und der Herstellung des kollektiven Kultur- und Wirtschaftsgutes Leistungssport zu widmen. Wenn die Gesellschaft von den Athlet*innen professionell vorbereitete Leistungen erwartet, sollte sie ihnen auch einen professionellen Rahmen zur Verfügung stellen. Wir wollen die Rolle der Athlet*innen stärken und setzen uns dafür ein, dass sie auf allen Ebenen des Sports die nötigen demokratischen Vertretungs-, Mitbestimmungs- und Mitspracherechte sowie in den sie unmittelbar betreffenden Belangen auch Vetorechte erhalten.[5]

Duale Karriere/Persönlichkeitsentwicklung/Laufbahnbegleitung

Athlet*innen widmen in einer mit der Schulausbildung, der Berufswahl, -ausbildung und dem Berufseinstieg für das spätere Leben entscheidenden Phase einen wesentlichen Zeitanteil ihres Lebens dem Leistungssport.[6] Mit der Entscheidung für den Spitzensport nehmen sie einen Verzicht oder eine verzögerte berufliche Karriere auf sich, die in späteren Jahren im Vergleich zu Nicht-Leistungssportler*innen nur bedingt wieder aufgeholt werden kann. Dies hat Auswirkungen bis hin zur Altersversorgung.

Die Frage nach der leistungssportlichen Zukunft und der beruflichen Perspektive stellt sich den Sportler*innen spätestens zum Ende der Schulzeit. Wir beobachten, dass viele Spitzensportverbände bereits in dieser Lebensphase eine hohe Drop-Out-Quote zu verzeichnen haben.[7] [8] Dies setzt sich in der weiteren Leistungssportkarriere fort. Hauptursache für die tatsächliche Beendigung der Karriere ist oft nicht mangelnder sportlicher Erfolg, sondern die Konzentration auf Ausbildung, Studium und Beruf.[9] Es bedarf daher bereits im Nachwuchsleistungssport verstärkter Bemühungen Sportler*innen für Engagement im Leistungssport zu motivieren.

Zudem gewinnen das persönliche finanzielle Auskommen und die Möglichkeit zur dualen Karriere mit zunehmendem Alter der Athlet*innen immer mehr an Bedeutung. Im Ergebnis dieser persönlichen Kosten-Nutzen-Abwägung nimmt die Zufriedenheit der Athlet*innen mit dem finanziellen Auskommen im Karriereverlauf immer mehr ab.

Der Übergang von Spitzensportler*innen ins Berufsleben verläuft bei einigen Sportler*innen gut. Es gibt aber auch Fälle, bei denen sich der Übergang verzögert und/oder die Sportler*innen in Berufsbereichen landen, die nicht ihrem Ausbildungsniveau entsprechen.[10] Es werden Stellen angenommen, die eine Ausbildung parallel zum Spitzensport gut ermöglichen, aber keine echte Perspektive für die Sportler*innen nach der Laufbahn darstellen.

Ebenfalls ist festzustellen, dass viele Athlet*innen aufgrund der Bundes- und Landeskader- strukturen insbesondere beim Übergang aus der Nachwuchs- in die Hauptwettkampfklasse komplett aus dem Unterstützungssystem fallen, obwohl sie weiterhin auf nationaler und internationaler Ebene sportlich hochwertige Ergebnisse erreichen, jedoch aufgrund der hohen Kadernormen den Sprung in den Bundeskader mit dem Anspruch einer olympischen Endkampfplatzierung nicht erreichen.  

Lösung: Wesentlich für die Athlet*innen ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von sportlicher Karriere und schulischer/beruflicher (Aus-)Bildung sowie deren Persönlichkeitsentwicklung. Dabei geht es zum einen um die Förderung und Unterstützung der betreffenden Sportler*innen während ihrer aktiven Karriere, zum anderen aber auch darum, ihnen eine Perspektive für die Zeit nach dem Sport aufzuzeigen. Darüber hinaus bedarf es auch konkreter Unterstützungsmaßnahmen für Sportler*innen der Hauptwettkampfklasse ohne Zugehörigkeit zum Bundeskader zum Beispiel in Form bundesweiter Landeskader (L-Kader) für Erwachsene mit Zugang zur Laufbahnbegleitung und Trainingsinfrastruktur. All diese Maßnahmen sind notwendig, um sicherzustellen, dass Sportler*innen nicht aufgrund von Existenzsorgen und Zukunftsängsten ihre leistungssportliche Karriere frühzeitig beenden.

Wir fordern:

  • Die Weiterentwicklung der Laufbahnberatung zu einer echten Laufbahnbegleitung, zu der auch Athlet*innen aus nicht-olympischen Sportarten im Leistungssport Zugang haben. Diese muss bereits deutlich vor dem Ende der Schulzeit ansetzen und die Sportler*innen über die gesamte leistungssportliche Phase partnerschaftlich eng begleiten. Die Sportler*innen sollten aktiv in die Planung und die Bewältigung von Lebenssituationen (Karriere, Standortwechsel, Verletzungen) eingebunden werden. Eine ganzheitliche Laufbahnbegleitung muss möglicherweise bereits auf Landeskaderniveau in der Schulzeit ansetzen. Sie reicht über die Ausbildung bzw. das Studium bis zur Bewältigung des Berufseinstiegs auch deutlich nach Ende der Kaderzugehörigkeit und betrifft nicht nur die Ebene der Qualifikation, sondern nimmt stets den ganzen Menschen in seiner Persönlichkeitsentwicklung in den Blick. Dafür müssen die Stellen an den OSP und BSP in der Laufbahnberatung und Sportpsychologie qualifikationsadäquat bezahlt sein, damit fachliche Qualität und Langfristigkeit gewährleistet ist. Häufig wechselnde Ansprechpartner*innen aufgrund schlecht vergüteter Arbeitsverhältnisse garantieren für die Athlet*innen keine persönliche Kontinuität in der Betreuung langjähriger Sportkarrieren.
  • Eine bundesweit vergleichbare Profilquote Sport für den Hochschulzugang von Kaderathlet*innen. Sowohl für das Erststudium (zum Beispiel Bachelor-, Diplom, Studiengänge zum Staatsexamen und im Rahmen der zentralen Studienplatzvergabe) als auch für anschließende Masterstudien-gänge. Kaderathlet*innen, deren Studienorte durch sportfachliche Aspekte fremdbestimmt sind, sollen in ihrer Studienwahl möglichst frei sein und nicht gezwungen werden, sich zwischen Studium und Sportkarriere entscheiden zu müssen .[11] [12]  Eine Profilquote erscheint umso notwendiger, da bei den Olympischen Sommerspielen die studierenden Sportler*innen inzwischen die Mehrzahl der Sportler*innen stellen. [13] Die Profilquote sollte sich auf die gesamte Studierendenzahl einer Hochschule und nicht  auf einen einzelnen Studiengang beziehen, um unnötige Engpässe beim Studienzugang zu vermeiden. Es müssen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Spitzensportler*innen bei einem Wechsel des Olympiastützpunktes ihren bisherigen Studiengang ungehindert fortführen können – auch bei Wegfall der Kaderzugehörigkeit.
  • Die Schaffung ziviler Sportförderstellen des Bundes und der Länder für Leistungssportler*innen, die im Förderungsumfang den Athlet*innen in den Sportfördergruppen bei der Bundespolizei, Landespolizei, der Bundeswehr und dem Zoll gleichzusetzen sind, insbesondere durch Eröffnung von zivilen Ausbildungs- und Berufswegen (mit und ohne Hochschulzugangsberechtigung). 
  • Entwicklung eines Stipendiensystems in der freien Wirtschaft, das auf Leistungssportler*innen abgestimmte spitzensportkompatible Ausbildungsplätze mit und ohne Hochschulzugangsberechtigung zur Verfügung stellt.
  • Angemessener Ausgleich des aufgrund der Ausübung des Spitzensports verzögerten Berufseinstiegs in der Altersversorgung. 

Emanzipation/Gleichberechtigung (Mitbestimmung)

Wir beobachten, dass der Gender Pay Gap im Sport wesentlich größer ist als in anderen Bereichen wie zum Beispiel in der Politik, Medizin und der Wissenschaft. Insbesondere bei den Prämien beträgt die Differenz laut statistischem Bundesamt bis zu 87 %. Auch international spiegelt sich dieses Missverhältnis in dem Ranking des Wirtschaftsmagazins Forbes[14] der Top 100 der bestverdienenden Sportler*innen der Welt für das Jahr 2020 wider. Nur zwei Frauen, die Tennisspielerinnen Serena Williams (USA) und Naomi Osaka (Japan), sind unter den Top 50 (Platz 33, 29) platziert.

Die mediale Unterrepräsentanz von Frauensport verhindert Sponsor*inneninteresse. Verglichen mit Männersport macht Sponsoring im Frauensport weltweit weniger als 1% aus. Medien und Sponsoring beeinflussen sich gegenseitig.[15] Es gibt keine Investition in etwas, das nicht medial stattfindet. Daraus erklärt sich auch das große Gender Pay Gap bei den Preisgeldern zum Beispiel dem Skispringen. Diese sind für einen Weltcup Sieg der Männer doppelt so hoch.

Mangelndes Medien- und Sponsor*inneninteresse begründet auch strukturelle und organisatorische Diskriminierung von Frauensportarten im Trainings- und Wettkampfbetrieb (zum Beispiel keine Vierschanzentournee, Skisprungturniere nur von kleiner Schanze, kaum Ruderachter, nur Mono-Bob statt Viererbob, zu wenig Radrennen etc.).Darunter lassen sich aber auch Diskriminierungen schwangerer Athletinnen durch ihre Sponsor*innen, die Verträge kündigen bzw. Zahlungen reduzieren, subsumieren. Zum Beispiel erlebte dies die Kaderathletin und Kugelstoßerin Christina Schwanitz, deren Vertrag mit einem bekannten Sportartikelhersteller aufgekündigt wurde.[16] 

Darüber hinaus sind die Arbeitsbedingungen von Spitzensportlerinnen strukturell familienunfreundlich, insbesondere kommt Familienplanung im Leistungssport kaum vor. Laut Umfrage[17] unter 700 Spitzensportlerinnen fühlen sich nur ca. 10% von ihrem Verein oder Verband dabei unterstützt, während ihrer aktiven Karriere eine Familie zu gründen. Bei Schwangerschaft der Athletinnen sehen viele Verträge bisher keine speziellen Regelungen vor. Diese sind umso wichtiger, da viele Athletinnen nur befristete Verträge haben. Zwar wird die Sporthilfe Förderung für die Förderperiode von 12 Monaten aufrechterhalten. Hat die Athletin aber keinen Kaderstatus, kann sie im Anschluss nur über die #comebackstronger-Förderung eine individuell nach Höhe und Dauer festgelegte Förderung erhalten, die sich nur am vorherigen Förderniveau orientiert.[18] [19]

Spitzensportler*innen sind Arbeitnehmer*innen eines “Berufes auf Zeit”, die erst später als die Nicht-Leistungssportler*innen nach Ende ihrer Sportkarriere in den Beruf einsteigen und die dadurch eine zunehmende Einkommensdifferenz und später eine geringere Altersversorgung erwartet. Frauen trifft es noch härter. Denn Athletinnen verdienen in ihrer aktiven Sportkarriere in der Regel bereits weniger als ihre männlichen Kollegen und haben bisher häufiger Erwerbsunterbrechungen durch Elternzeiten, so dass diese negative Differenz über ein zunehmendes Gender Lifetime Earning Gap in einen Gender Pension Gap mündet.

Auch kommt in den bisherigen Gleichstellungsberichten der Bundesregierung der Sport nicht explizit vor, obwohl zum einen im Gehalts-, Prämien- und Sponsoringbereich und zum anderen in den familienunfreundlichen Arbeitsbedingungen der Athlet*innen eine starke geschlechtsbezogene Diskriminierung besteht.  

Lösung: Durch Gehalts- und Prämientransparenz kann man dem Gender Pay Gap entgegenwirken, sowie die Bruttoarbeitslöhne der Athletinnen an die ihrer männlichen Kollegen anpassen.[20] Die Veranstaltung von gemeinsamen Wettbewerben von Frauen und Männern oder Mixed-Wettkämpfen hilft, die Frauen und ihren Sport stärker medial in den Fokus zu rücken und dadurch auch ein größeres Sponsor*inneninteresse zu wecken. Als positiver Synergieeffekt beugt die Nutzung derselben Wettkampfinfrastruktur organisatorischen Diskriminierungen von Frauensport im Trainings- und Wettkampfbetrieb vor. Athletinnen und Athleten müssen im Wettkampf- und Prämiensystem gleichgestellt werden. Zudem müssen die Verträge für Frauen um Regeln zur Schwangerschaft erweitert werden. Die Rückkehr aus Elternzeit muss für alle Athlet*innen stufenweise ermöglicht werden, sowie familienfreundliche Strukturen zum Beispiel Kinderbetreuungseinrichtungen an Olympia- und Bundesstützpunkten eingerichtet werden.

Wir fordern:

  • Alle Landes- und Fachverbände, die Leistungssport und Nachwuchsleistungssport betreiben, sollen in ihren Satzungen und Ordnungen die paritätisch besetzteRepräsentanz vonAthlet*innen auf Vorstandsebene verankern, wenn diese weiterhin öffentlich gefördert werden sollen. Es ist darauf zu achten, dass diese Personen von den Sportler*innen in demokratischer Weise gewählt werden. Die gewählte Position ist mit Sachmitteln auszustatten und seitens der Verbände bei der Kommunikation zu unterstützen. 
  • Zweitens Gleichberechtigung für Frauen im Wettkampf- und Prämiensystem, insbesondere dann, wenn die Veranstaltungen von der öffentlichen Hand Unterstützung erfahren sollen. 
  • Vorschriften für Gleichbehandlung bei Exklusiv-Verträgen mit öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Streamingdiensten und Sponsoren.
  • Gehalts- und Prämientransparenz, um den Gender-Pay-Gap zu schließen.
  • Richtlinien für Sponsorenverträge während der Schwangerschaft/des Mutterschutzes
  • Athlet*innenverträge im Sport mit Jobgarantie bei Schwangerschaft sowie die Möglichkeit zur Elternzeit für Kaderathlet*innen.
  • Anreizsysteme zur Schaffung von Betreuungsinfrastruktur für Kinder bis zum Schuleintritt an Olympia- und Bundesstützpunkten.
  • Erweiterung zukünftiger Gleichstellungsberichte der Bundesregierung um das Thema Sport.

Schattenseiten des Sports: Doping/Sportbetrug

Nicht erst durch die Whistleblower Julia Stepanova und Grigori Rodschenkow mit der darauf folgenden WADA-Veröffentlichung der McLaren-Reporte 1 und 2 sowie der Nachtestung der Doping-Proben der Olympischen Sommerspiele Peking 2008, London 2012, der Leichtathletik WM Moskau 2013 und der Olympischen Winterspiele Sotchi 2014 offenbarte sich neben dem jahrelangen russischen Staatsdoping die Problematik, dass auch deutsche Athlet*innen immer wieder Opfer von Doping und systematischem Sportbetrug durch andere Athlet*innen werden.[21] Für die sauberen Athlet*innen, die dadurch um ihren Glücksmoment auf dem Podest oder die Finalteilnahme für immer betrogen sind, gestaltet es sich zudem juristisch im Nachhinein oft schwierig bis unmöglich die Medaillen und ausgezahlten Siegprämien von Sportler*innen aus dem Ausland zurückzuerlangen. Auch der Medaillenspiegel, Kaderzugehörigkeiten, Sponsorenverträge sowie die daran gebundenen Förderleistungen werden rückwirkend kaum angepasst. Vielfach wären Karrieren von Sportler*innen unter fairen Umständen anders verlaufen.

Lösung: Zunächst sollte der Anti-Doping-Kampf effizienter und unabhängiger geführt werden. Es darf in der Zukunft keine finanziellen Abhängigkeiten der WADA und NADA von den Sportverbänden geben, die durch diese kontrolliert werden sollen. Die Athlet*innen müssen ein institutionalisiertes Mitspracherecht zur Wahrung ihrer Rechte und Interessen gegenüber WADA und NADA erhalten. Die Förderlogik des Bundes muss an die Tatsache angepasst werden, dass viele Leistungen erst im Nachhinein und mit großem zeitlichem Verzug, mitunter erst nach Abschluss der Karrieren der Athlet*innen fair und angemessen beurteilt werden können. Die Leistungsbilanzen der Verbände müssen im Falle von Evaluationen im Nachhinein korrigiert werden, wenn sie förderrelevant waren. Auf individueller Ebene könnte hier ein Entschädigungsfonds für die Opfer von Sportbetrug (zum Beispiel angesiedelt bei der Deutschen Sporthilfe) zumindest für eine teilweise Wiedergutmachung sorgen.[22] Ziel des Fonds sollte sein, die entgangenen Prämien und Förderleistungen zumindest zum Teil zu kompensieren; insbesondere dann, wenn der privatrechtliche Weg gegenüber den betrügenden Athlet*innen und Verbänden keine Aussicht auf Erfolg hat. Mit Interesse haben wir die Einführung des sogenannten „Rodschenkow Acts“ in den USA verfolgt und wollen Möglichkeiten prüfen, wie auch in Deutschland die Strafverfolgung der Drahtzieher*innen von Sportbetrug im Ausland vorangetrieben werden kann. Veranstalter und Verbände müssen überdies angehalten werden, bereits bei Ausrichtung einer internationalen Meisterschaft entsprechende nachträgliche Kompensationsleistungen (wie einen doppelten Medaillensatz/Siegprämien) auf Vorrat zu halten und die Dopingproben so lange aufzubewahren, dass auch Jahre später mit neueren Methoden Kontrolltestungen vorgenommen werden können. 

Wir fordern:

  • Eine Stärkung der Doping-Prävention. Im Anti-Doping-Kampf wollen wir die NADA stärken und fordern auf internationaler Ebene weitreichende Reformen der WADA, die ihre Aufgaben vollständig unabhängig vom IOC ausführen und Athlet*innen echte Mitbestimmung ermöglichen muss.
  • Verbesserte gesetzliche Regelungen, z. B. mehr Anreize und besseren Schutz für Whistleblower*innen durch Kronzeugenregelung, um mehr Strukturen im Hintergrund aufdecken zu können.  Denkbar wäre auch eine Gesetzesinitiative zur Überarbeitung des Anti-Doping-Gesetzes im Sinne des „Rodschenkow-Acts“ in den USA.
  • Einen Entschädigungsfond für die Opfer von Sportbetrug, damit die Athlet*innen im Nachhinein zumindest für entgangene Förderleistungen Kompensationszahlungen erhalten. Vor allem dann, wenn die Täter*innen im Ausland nicht belangt werden können.
  • Die Verpflichtung von internationalen Veranstaltern und Verbänden Dopingproben mehrjährig aufzubewahren, diese Proben routinemäßig mit besseren Analysemethoden nachzutesten und die korrigierten Ergebnisse offenzulegen.
  • Die Kopplung von Zuwendungen für die Verbände an die Durchführung von Anti-Doping-Präventionsprogrammen im Nachwuchsleistungssport.

Schutz der Athlet*innen[23]: Schmerzmittelmissbrauch

„Sport ist gesund“ heißt es. Wie passt dazu der massive Griff zu Schmerzmitteln (Analgetika) im Spitzensport, im Training und bei Wettkämpfen, vorbeugend und bei konkreten Schmerzen? Im Profi- und Hochleistungssport kann aufgrund wissenschaftlich erhobener Daten auf einen häufigen Analgetikakonsum (auch ohne vorliegende Beschwerden) geschlossen werden.[24] Schmerzmittel seien ein effektives Mittel, um länger und härter trainieren zu können.[25] Dabei ist der Schmerzmittelgebrauch nicht unproblematisch. Insbesondere durch die Einnahme vor Beginn des Wettkampfes werden der Magen-Darm-Trakt und die Nieren unnötig belastet und produzieren zusätzliche Elektrolytstörungen, die schlimmstenfalls in einer Hyponatriämie gipfeln können, die dann die Ursache für akutes Kreislaufversagen und kardiale Todesfälle sein kann.[26] Die Einnahme dieser Medikamente kann außerdem dazu führen, dass teils gravierende Verletzungen der Muskulatur und der Gelenke entstehen, weil die Warnfunktion des Schmerzes ausgeschaltet wurde.[27] Neben der Krankheitsgefahr ist eine nicht-medizinische Einnahme genau wie Doping als unsportliche Praktik anzusehen.

Lösung: Die öffentliche Diskussion im Bundestag mit der Anhörung des Sportausschusses am 27.1.2021 hat eine wichtige Debatte in Gang gebracht, die noch am Anfang steht. Es bedarf weiterer Forschung zum Thema in Bezug auf die Ursachen und Folgen des Gebrauchs von Schmerzmitteln. In Zukunft sollte neben dem Anti-Doping-Kampf auch der Schmerzmittelgebrauch im Wettkampfsport auf allen Leistungsebenen (Spitzen- und Breitensport) systematisch und transparent in den Blut-/Urinproben bei Screenings miterhoben werden. Die Verbände, Vereine und Sportmediziner*innen müssen auf der Ebene der Verhaltensprävention auf ihre Trainer*innen und Athlet*innen im Sinne eines bewussten Umgangs mit Medikamenten im Sport einwirken und regelmäßig über die Risiken aufklären. Einer eigenständigen Einnahme ohne ärztliche Indikationsstellung und medizinische Begleitung sollte vorgebeugt werden. Bei der zukünftigen Auseinandersetzung mit dem Thema sind die drei unterschiedlichen Beschaffungswege “frei erhältlich”, “mit ärztlicher Verordnung” und auf dem “Schwarzmarkt” in den Blick zu nehmen, um mögliche Interventionsansätze zu extrahieren.

Wir fordern: 

  • Regelmäßige Aufklärung von Sportler*innen und Trainer*innen (zum Beispiel Einladungen zu Informationsveranstaltungen durch die Verbände).
  • Schmerzen und Beschwerden, die während des Sports auftreten, sind medizinisch abzuklären. Eine notwendige Schmerzmitteleinnahme bedarf einer ärztlichen Indikationsstellung unter Abwägung der Risiken.
  • Wettkampfsysteme und individuelle Trainingsbelastungen sind so zu gestalten, dass ausreichende Regenerationsphasen möglich sind.

Beschlossen durch die Bundesarbeitsgemeinschaft Sportpolitik von Bündnis 90/Die Grünen am 06.06.2021

Autor*innen:

Jan-Gerrit Keil (Koordinator), LV Berlin

Kerstin Selinski-Spohler (Koordinatorin), LV Bremen

Anja Hochschild, LV Berlin

Astrid Bialluch-Liu, LV Berlin

Lars Hampel, LV Niedersachsen

Leon Knaack, Athlet*innen-Kooptierter BAG Sportpolitik

René Scherf, LV Nordrhein-Westfalen


[1] Thieß, G., Tschiene, P. & Nickel, H. (1997). Der sportliche Wettkampf. Vorbereitung – Durchführung – Auswertung. Münster: Philippka.

[2] Wir geben Digel, H. (1991, Wettkampf – Wege zu einer besseren Praxis. Aachen: Meyer & Meyer) recht, wenn er darauf hinweist, dass die Dichotomisierung von Freizeit- und Leistungssport künstlich ist und die Übergänge fließend sind. Weder ist das eine nur gesund und spaßbetont noch ist das andere nur schädlich und freudlos. Im Gegenteil wird das Prinzip des Wettkampfs in allen Leistungs- und Altersklassen aus sich selbst heraus als sinnhaft erlebt. Durch das vorgeschriebene Regelwerk und die prinzipielle Gleichheit im Wettbewerb wird eine maximale Integration und Überwindung von Statusgrenzen ermöglicht. Die Aufgabe des Wettkampfgedankens birgt dagegen das Risiko in sich, dass gesellschaftliche Differenzen und Statusunterschiede von außerhalb des Sports über die Wahl der Orte, Ausrüstungsgegenstände und Art der Aktivitäten exkludierend in diesen hineintransportiert werden können.

[3] Breuer, C., Wicker, P., Dallmeyer, S., & Ilgner, M. (2018). Die Lebenssituation von Spitzensportlern und -sportlerinnen in Deutschland. Bonn: Bundesinstitut für Sportwissenschaft.

[4] Asmuth, C. (2010). Was ist Doping – Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. Bielefeld: transcript Verlag. Der Autor weist zurecht darauf hin, dass Doping gerade kein exklusives Problem des Sports sondern vielmehr ein Querschnittsthema von modernen Gesellschaften (Drogen, Lifestyle, Enhancement) ist.

[5] Vgl. Antrag Bündnis 90/Die Grünen (2017). Konzept zur Spitzensportreform grundlegend überarbeiten – Beteiligungsrechte für Athletinnen und Athleten verankern. Drucksache 18/10981 in der 18. Wahlperiode.

[6] Breuer, C., Wicker, P., Dallmeyer, S., & Ilgner, M. (2018). a.a.O.

[7] Breuer, C. , Hallmann, K. & Ilgner, M. (2015). Erfolgsfaktoren der Athletenförderung in Deutschland. Sportverlag Strauss.

[8] Labbani, S. (2013): Analyse aktueller internationaler Studien zu Dropout im Leistungssport, GRIN.

[9] Breuer, C., Hallmann, K. & Ilgner, M. (2015). a.a.O.

[10] Breuer, C., Wicker, P., Dallmeyer, S., & Ilgner, M. (2018). a.a.O.

[11] Laufbahnberater*innen des OSP RLP/SL in Leichtathletik Nr. 39-40 vom 23.09.2020

[12] Tippelt, U., Bähr, H., Scharf, M. & Wick, J. (2016). Spitzensport in Deutschland erfolgreicher machen. Leipzig: Institut für Angewandte Trainingswissenschaft. https://www.sponet.de/Record/4038731 (entnommen am 26.12.2020).

[13] Hottenrott, K. & Braumann, K.-M. (2015). Aktuelle Situation im deutschen Spitzensport. Sportwissenschaft, 45(3), 111-115.

[14] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/forbes-ranking-das-sind-die-bestbezahlten-sportler-der-welt/26269608.html?ticket=ST-8542465-W7VBHjMcAYmelXXmL1gy-ap6 (entnommen am 05.05.2021)

[15] https://www.boell.de/de/2016/06/19/huerdenlauf-mit-hindernissen-die-rolle-von-frauen-im-spitzensport (entnommen am 05.05.2021)

[16] https://taz.de/Muetter-im-Leistungssport/!5677773/ (entnommen am 05.05.2021)

[17] https://www.swr.de/sport/frauen-im-sport/famlienplanung-frauen-im-spitzensport-100.html (entnommen am 05.05.2021)

[18] https://www.sporthilfe.de/athletenfoerderung/foerderbeispiele/mama-ist-die-weltbeste (entnommen am 05.05.2021)

[19] Breuer, C., Wicker, P., Dallmeyer, S., & Ilgner, M. (2018). a.a.O.

[20] Breuer, C., Wicker, P., Dallmeyer, S., & Ilgner, M. (2018). a.a.O.

[21] McLaren Report der WADA Teil 1 https://www.wada-ama.org/sites/default/files/resources/files/20160718_ip_report_newfinal.pdf und Teil 2 https://www.wada-ama.org/sites/default/files/resources/files/mclaren_report_part_ii_2.pdf (entnommen am 25.12.2020).

[22] Dieser Entschädigungsfonds hat nichts zu tun mit dem zweiten Doping-Opfer-Hilfegesetz, wonach die Opfer von Dopingmissbrauch durch das DDR-Zwangsdopingsystem die ihnen zugefügten Schäden geltend machen können, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Doping-Opfer von Sportbetrug, die aktuell und in Zukunft anfallen.

[23] Zum Schutz vor Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt im Sport gibt es ein eigenständiges Positionspapier, weshalb dieser Punkt hier nicht noch einmal auftaucht.

[24] Ausgewählte Fakten zur öffentlichen Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages am 27.01.2021, Prof. Dr. Dr. Dieter Leyk, Dr. Thomas Rüther, Forschungsgruppe Leistungsepidemiologie.

[25] Wessinghage, T. (14.06.2020). „Schmerzmittel im Leistungssport“, Deutschlandfunk.

[26]  Dt. Ärzteblatt (2009). „Laien- und Leistungssport: Geht nichts mehr ohne Schmerzmittel?“.

[27]  Graf-Baumann, T. (2019). „Schmerzmittel im Sport“, Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.

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